
Für alle, die Episoden 1 und 2 von „Die Prinzessin der Toten“ (Berlin Monsters) schon gelesen haben, hier ein Preview von Band 3, der Anfang Mai 2019 erscheint!
Bitte beachte, dass es sich bei dieser Version noch um eine unredigierte Fassung handelt!
Earth II, 2156
214 Jahre nach der Großen Katastrophe
Berlin-Moabit, Hafenviertel, Phönix-Bar
Der Tod selbst sah vermutlich in etwa so aus wie er: eine Mischung aus ausgekotzt und Wasserleiche. Chris ließ sich noch einmal Wasser über das Gesicht laufen, aber nichts wurde dadurch besser. Und ihm war immer noch schlecht, als er auf den kleinen, dunklen Flur vor den Toiletten trat, sein Gesicht mit dem Ärmel abtrocknete, und er die leisen Stimmen seiner Freunde hörte.
„Was hast du gesagt? Wie alt sind sie gewesen?“ Marek.
„Im Protokoll stand sechszehn. Und Chris sagte, das wären nicht einmal die jüngsten Todeskandidaten gewesen…“ Jacob.
Und die scheiß Hinrichtung! Sie hatte ihn wieder eingeholt. Aber das Schlimmste war, dass die anderen ihn offenbar für so labil hielten, dass sie nicht mit ihm hatten darüber reden wollten. Das machte das, was er ihnen zu sagen hatte, nicht gerade leichter.
„Kannten wir sie?“ Wieder Marek. Aus seinem Versteck heraus sah Chris, wie sich seinen Hand fest um den Bierkrug vor ihm schloss, als Jacob stumm den Kopf schüttelte.
„Erinnert ihr euch noch an die drei Jugendlichen, die vor einer Woche am Hafen verhaftet worden sind?“, murmelte sein Freund. „Ich glaube, das waren sie. Eine kleine Bande, nur Straßenjungs.“
„So wie wir?“ Levent lehnte sich zurück und stimmte das dunkle, seltsame Lachen an, mit dem er sie alle jedes Mal in Panik versetzte, weil es so klang als käme es aus den tiefsten Abgründen der Hölle und nicht aus dem breitschultrigen jungen Mann, hinter dessen Rücken sich zwei von ihnen gleichzeitig verstecken konnten. Levent hob seinen Bierkrug und prostete den anderen zu, ohne zu wissen, dass seine wenigen Worte Bilder in Chris wachgerufen hatten, die tatsächlich direkt aus dem Höllenschlund stammten.
Marek zuckte die Achseln. „Klar erinnere ich mich an die. Die Packer an den Quais haben erzählt, diese Kinder wären irgendeinem Handel mit geschmuggeltem Baumaterial aus der Küstenregion der französischen Landschaften auf die Schliche gekommen – purer Zufall.“ Es gab keinen Tratsch im Hafenviertel, den Marek nicht kannte. Schließlich trieb er sich den ganzen Tag auf der Straße herum und fand nur nachts den Weg in die Bar. „Haben wohl gedacht, das wäre ein ganz großes Ding, mit dem man sich einen Namen machen könnte, und eine hübsche Erpressung wert. Aber aus sowas hält man sich besser raus, wenn man nicht weiß, mit wem man es zu tun hat.“
Rafa lehnte sich ruckartig vor. Seine Stimme erklang direkt aus dem Dickicht seiner verfilzten Locken: „Und mit wem hatten sie es zu tun?“
„Es war Shiros Ware“, sagte Marek.
Der Name traf Chris wie eine Faust in den Magen und ließ alle verstummen, die an dem runden Tisch versammelt waren, der in der hintersten Ecke der Phönix-Bar stets für sie reserviert war. Dabei bestätigte Marek bloß, was er ohnehin schon vermutet hat. Es hätte ihn gewundert, wenn der Name seines Onkels in diesem Zusammenhang einmal nicht gefallen wäre.
Es war kurz nach vier Uhr morgens und der Laden leer, das machte die plötzliche Stille umso drückender. Levents Hand klickte mit dem Messer auf die Tischplatte, mit dem er sich eben noch die Fingernägel gesäubert hatte, Mareks wie immer in Kampfstiefeln steckende Füße tappten auf dem Bretterboden einen abgehackten Rhythmus, und Jacob kaute auf der Zigarette herum, die in seinem Mundwinkel steckte, ohne dass er sie angezündet hätte.
Chris wusste genau, was in diesem Moment in ihren Köpfen vorging, welcher Name darin herumspukte. Und dass er selbst der Anlass dafür war. Das war ganz große Scheiße.
„Wir müssen Chris hier rausschaffen, Leute“, flüsterte Rafa dann auch prompt.
Aber genau das mussten sie nicht. Chris hatte genug gehört. Er stieß sich von der Wand ab und zog laut die Klotür hinter sich zu. „Was macht ihr denn für Gesichter?“, wollte er wissen, als er in den Gastraum trat. Er klopfte sich lässig Staub vom Jackett, den er im Dämmerlicht des Separees nicht einmal dann gesehen hätte, wenn er tatsächlich existent gewesen wäre. Die Holzlaternen, die Rafa für die Bar geschnitzt und deren Glaseinsätze er mit bemaltem Pergament beklebt hatte, verbreiten gemeinsam mit der grünbedruckten Papiertapete, und den dunklen alten Möbeln genau die schummrige Atmosphäre, in der sie sich alle so wohl fühlten.
Jacob sprang sofort auf und kam ihm entgegen. „Geht es dir wieder besser?“, fragte er leise.
Es war Chris selten so schwer gefallen, zu grinsen. Aber er konnte Jacobs Besorgnis jetzt wirklich nicht gebrauchen. Die anderen beobachten ihn. „Mir geht’s großartig“, behauptete er.
„Ich dachte, du hättest dich übergeben oder sowas?“
„Ich war pinkeln…“
Jacob hob entschuldigend die Hände. „In der Zitadelle hast du gesagt-„
„Nein!“, unterbrach Chris ihn und betonte: „Ich. Bin. In Ordnung.“
Nicht, dass Jacob darauf eingegangen wäre… „Dann ist dir die ganze Sache also nicht auf den Magen geschlagen?“, wollte er wissen und Chris fragte sich, was er eigentlich noch zu verhindern versuchte.
Jeder ihrer Freunde wusste, wovon Jacob sprach. Es ging um Shiro, es ging um die kommende Nacht, es ging um ihn. Wie gerne hätte Chris dieses Gespräch vermieden, aber ihm lief die Zeit davon und nach den Geschehnissen der letzten Stunden hatte die Sache eine neue Brisanz bekommen. Er hatte schon zu viele Leute sterben gesehen. Und alle Blicke ruhten längst auf ihm. Auch wenn sie sich bemühten, für ihn fröhliche Gesichter aufzusetzen, es war nur gespielt und Marek konnte sich dazu gar nicht erst aufraffen. Er musterte Chris ernst, sein Gesicht so hell wie seine weißblonden Haare. „Kotzen beginnt nicht einmal zu beschreiben, wie es mir ging, nachdem ich dich zuletzt in die Zitadelle begleitet habe“, stellte er fest. „Das muss aufhören.“
Das hier musste aufhören und zwar sofort. So wie Marek verschränkte Chris die Arme vor der Brust. „Ja, ich könnte auch ganz gut auf diese Vorstellungen verzichten.“
Der andere lehnte sich ihm entgegen. „Das kannst du ja zum Glück bald“, sagte er und seine eisblauen Augen funkelten.
Sein Blick ließ Chris nicht los, als Jacob ihn zu seinem Platz am Tisch zurückdirigierte, das Licht der Laterne ihn erfasste wie die Beleuchtung in einem Verhörraum. „Ihr braucht das nicht zu tun“, sagte er, in der festen Absicht, das längst überfällige Gespräch jetzt endlich zu beginnen. „Ihr braucht mich nicht zu begleiten, hört ihr?“
Marek wollte etwas erwidern, aber da sagt Levent schon: „Wir machen das schon freiwillig!“ Er sprach langsam, aber sehr bestimmt, rieb sich nachdenklich über seine Stoppelhaare, so wie immer, wenn ihn etwas sehr mitnahm. Abgesehen von Jacob, der sich seine Mähne – vermutlich in einem Anfall von Wahnsinn – vor einem Jahr abrasiert hatte, war Levent der Einzige von ihnen, der seine Haare nicht wie ein Cantara lang trug, weil er fand, dass ihm das ohne cantarische Wurzeln nicht zustand. Chris war das nie wichtig gewesen, er hätte Levent mehr als lange Haare gegönnt, allein dafür, dass er jetzt hinzufügte: „Also, ich würde für dich überall hingehen.“ Auch, wenn es nicht das war, was er jetzt von ihm hören wollte, und Jacob das eigentliche Thema sofort wiederaufnahm.
„Marek hat Recht, das muss aufhören“, stellte er fest und ließ sich neben Chris auf den Stuhl fallen. „Mittlerweile kann man die Uhr danach stellen, so oft beruft dein Onkel dich in die verdammte Zitadelle ein.“
Damit hatte er nicht ganz Recht. Shiro tat es sogar so unregelmäßig, dass Chris sich nie sicher sein konnte, wann es wieder so weit sein würde. Er war jedes Mal unvorbereitet. Er machte ein abfälliges Geräusch und holte seine Zigaretten aus der Jackentasche. „Das ist nichts gegen das, was Lana dort jeden Tag mitmacht.“
Marek lacht. „Als ob deinen Cousine nicht den größtmöglichen Spaß daran haben würde!“
Chris scharrte mit der Spitze seiner Ledertrotteurs Dreck vom Boden auf, den die Putzfrauen anscheinend schon seit längerer Zeit übersehen hatten. „Woher willst du das wissen? Glaubst du den Scheiß, der in den Illustrierten steht? Lanakin ist Shiros Tochter, und er hat sie weit weg vom sozialen Leben der Stadt in einem Gefängnis eingesperrt. Was würdest du da tun?“
„Rechtfertigst du sie gerade?“, wollte Marek wissen.
Er fragte sich vielmehr, ob er nicht schon wieder dabei war, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Eigentlich hatte er vor langer Zeit aufgehört, sich über Lanas Launen Gedanken zu machen. „Nein“, sagte er ausweichend und nestelte an dem Zigarettenpäckchen herum. „Aber es gibt in der Tat nur eine einzige Sache, um die ich sie beneide: dass sie Shiros Visage nicht jeden Tag sehen muss.“
„Er hat dich genauso eingesperrt wie sie. Aber du trägst dein Gefängnis jeden Tag mit dir herum. Selbst hier bei uns.“
Chris sah verärgert zu Jacob auf, der das gesagt hatte und ihn auch noch im Sitzen um fast einen ganzen Kopf überragte. Er hatte sich seine pappige Zigarette zurück zwischen die Lippen geschoben. Hauptsächlich um ihn von derartigen Gedanken abzulenken, nahm Chris sie ihm weg und legte ihm eine neue hin. Die Dinger waren für jeden anderen an diesem Tisch unerschwinglich teuer, deshalb ließ er sein Päckchen wie so oft auf der Tischplatte liegen, beiläufig, als hätte er die begehrlichen Blicke der anderen gar nicht wahrgenommen.
„Er will mich zu seinem Nachfolger machen, nicht Lana“, stellte er fest. „Ich würde sagen, dass ihr Gefängnis sehr viel größer ist als meins. In jeder Hinsicht.“
„Und das soll natürlich heißen, dass es ihr schlechter geht als dir?“, fuhr Jacob auf.
Marek tätschelte besänftigend seinen Arm. Er griff dabei nach einer der Zigaretten und grinste. Chris kannte diesen Gesichtsausdruck und wollte gar nicht hören, was der junge Cantara jetzt zu sagen hatte. „Jacob, ich denke, das soll wohl eher heißen, dass das die große Zuneigung seines Onkels zu ihm zeigt“, meinte Marek bedächtig. „Nicht wahr, Chris? Ich würde sagen, wir blasen die ganze Sache heute Nacht einfach ab, und du bleibst, wo du bist. Darauf willst du doch hinaus?“
Er warf Marek vernichtende Blicke zu, aber der Freund sah gar nicht ein, sich davon zum Schweigen bringen zu lassen. „Als ob es für einen Traditionalisten wie Shiro Confera überhaupt in Frage käme, eine Frau zu seiner Nachfolgerin zu bestimmen. Glaubst du, das Arschloch bräuchte dich nur, um deinem Vater genussvoll reinzuwürgen, dass du auf den Confera-Thron nachrückst und nicht auf den der Revlani? Shiro will dich als Nachfolger. Und sollte das nicht zufällig auch dein Wunsch sein, wird der Typ alles dafür tun, um dich kaputtzumachen.“
Das war so ziemlich die beste Zusammenfassung seiner Situation, die er jemals gehört hatte. Chris stützte den Kopf in die Hände und biss die Zähne aufeinander, damit die anderen wenigstens nicht sehen konnten, wie kaputt er längst schon war. Shiro hatte ganze Arbeit geleistet. Aber das wussten sie nicht, das wusste nur er, sonst hätten sie nichts mehr von ihm gehalten.
„Was hält dich denn hier?“, fuhr Marek fort, der wohl glaubte, ihn jetzt in der Hand zu haben. „Ein Dach überm Kopf im Haus eines Psychopathen, der dich dazu zwingt, dir Hinrichtungen anzusehen und über jeden deiner Schritte bestimmt?“
Ihn hielt hier sehr viel mehr als das, und das wussten sie tatsächlich alle. Keinem der anderen gelang es noch, eine heitere Bemerkung oder einen Scherz zu machen, um den sie sonst nie verlegen waren. Seine Freunde hatten es in den letzten Tagen gut vor ihm verborgen, aber das Näherrücken der entscheidenden Nacht drückte auch in ihren Nacken.
Unruhig rutschte Chris auf seinem Stuhl nach hinten. Er war froh, aus dem Barraum Giulia auftauchen zu sehen und auch die anderen richteten ihre Blicke sehnsüchtig auf die junge Frau, die Chris nun einen dampfenden Krug vor die Nase stellte. Ein Teil seines Inhalts war bereits beim Transport hinausgeschwappt. Als Barfrau war Giulia kein Naturtalent, aber üblicherweise benötigte sie auch keinen Alkohol, um sie alle aufzuheitern.
Sie baute sich dicht neben Chris auf, so als reichte schon ihr schmaler Körper, um ihn einzuschüchtern. „Ein Schlückchen warmes Bier ist genau das Richtige für deinen schlimmen Magen“, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ.
Chris wagte ihn trotzdem: „Da bin ich mir nicht ganz so sicher?“
„Ich bin mir absolut sicher! Meine Mutter hat uns das Zeug jeden Abend vor dem Einschlafen eingeflößt, gerade auch wenn es uns schlecht ging.“
„Das konnte sich deine Mutter doch überhaupt nicht leisten“, rief Rafa ihr zu.
Giulia wischte sich ihre feuchten Hände an der Schürze ab, bevor sie sie auszog, zusammenknüllte und ihm an den Kopf warf. Levent zog Giulia aus der Schussrichtung, als Rafa das Stück Stoff sofort retour schickte.
„Ich habe nie behauptet, dass es mir schlecht geht!“, rief Chris dazwischen, aber Giulia interessierte das nicht. Sie ließ sich nach hinten auf Levents Schoß fallen, drückte ihrem Freund einen Kuss auf die Wange und befreite den ganzen Tisch mit ihrem Lachen.
Jacob griff endlich nach der neuen Zigarette und zündete sie an der Petroleumflamme der Laterne an, bevor er auch Marek Feuer gab. Müde rieb er sich dann über die Augen. „Also“, sagte er mit gedämpfter Stimme, „wir sollten noch einmal über morgen Nacht reden.“
Giulia gab Chris, der instinktiv den Mund öffnete, keine Gelegenheit, dieses Gespräch sofort zu beenden. Sie richtete sich drohend auf, ihr Hand zeigte auf seinen Bierkrug, während sie in Richtung des Tresens nach Unterstützung schrie: „Francesca!“ Dort, in der Dunkelheit der Tanzfläche im vorderen Teil der Bar, bewegte sich der Körper ihrer Schwester zu einer Musik, die nur in ihrem Kopf erklang, weil sich längst keiner mehr die Mühe gemacht hatte, die Musiktruhe anzukurbeln. „Komm her, wir wollen den Plan besprechen!“
„Moment!“ Chris verschluckte sich beinahe an dem dampfenden Gebräu, von dem er ihr zuliebe einen Schluck genommen hatte. „Welcher Plan? Es kommt gar nicht in Frage, dass ihr euch einmischt.“
„Eh?“, erwiderte Giulia spitzt. „Sind wir jetzt wieder an diesem Punkt: Ihr Mädchen haltet euch aus allem raus?“
„Das habe ich überhaupt nicht gemeint!“
„Aber deine Cousine wird in deiner Vorstellung Synçasima Confera?“ Wenn Giulia in Rage war, war sie nicht mehr aufzuhalten. Es schien ihr sogar völlig egal zu sein, dass sie ihnen gerade offenbarte, sie belauscht zu haben.
„Das würde in der Tat eines meiner Probleme lösen…“ Er kam nur mit diesem knappen Satz dazwischen, dann kommandierte Giulia schon: „Trink dein Bier!“, als könnte sie ihn damit bestrafen. So, wie das Zeug schmeckte, tat sie das tatsächlich. Und aus dem Hintergrund nahte schon Francesca heran. Einen halben Kopf kleiner als ihre Schwester, aber genauso energisch. Marek hatte die Schwestern vor gut zwei Jahren halb verhungert und völlig abgerissen am Hafen aufgegabelt, als sie gerade dabei waren, sich an einen der Kuppler aus dem Rotlichtviertel zu verkaufen. Keiner von ihnen wusste, was ihnen zuvor zugestoßen war, nur dass es sie hart gemacht hatte, bekamen sie jeden Tag von den Mädchen zu spüren. Für Giulia und Francesca gab es kein Gestern, nur das Heute, ihre Jungs und die Bar. „Will hier etwa jemand seine Medizin nicht einnehmen?“ Francesca erfasste die Szene im Separee mit einem Blick, zeigte auf den ersten Krug, dem sie einen zweiten, sehr viel volleren hinzugesellte.
„Franzi, ich tu alles für dich, aber…“
„Dann los: austrinken!“ Sie postierte sich genau hinter ihm und wartete ab, bis Chris ihrer Aufforderung nachgekommen war, während Giulia schon die Arme vor der Brust verschränkte. Sie war noch lange nicht mit ihnen fertig.
„Ihr Cantara seid doch alle gleich“, stellte sie fest, „Macho-Schweine! Kaum seid ihr wieder in einem Clan organisiert – und sei er noch so klein und unbedeutend, wie der Teil von euch, den ihr für den größten haltet – da sind eure Frauen plötzlich nur noch zum Putzen und Abwaschen gut.“
Chris öffnete den Mund, aber Jacob tat ihm den Gefallen, statt seiner zu stöhnen. „Giulia, wir nutzen euch nicht aus und ihr seid nicht unsere Frauen.“
„Meine schon“, nuschelte Levent an Giulias Hals gedrückt. Seine Augen waren schon kurz vor dem Zufallen gewesen, als Chris und Jacob eingetroffen waren.
„Ihr seid hier angestellt“, fuhr Jacob fort. „Putzen und Abwaschen stand in eurer Jobbeschreibung.“
„Seid froh, dass wir euch nicht als Nackttänzerin angeheuert haben“, sagte Marek nüchtern. „Darauf stehen wir Macho-Schweine nämlich ganz besonders.“
Ihm ließ Giulia das natürlich durchgehen. Seit sie zu ihnen gekommen war, betrachtete sie den rauen Einzelkämpfer als ihr persönliches Resozialisierungsprojekt. Sie reckte sich über den Tisch und wuschelte Marek durch die Haare, während ihre dunklen Augen auffordernde Pfeile schräg über den Tisch zu ihrer Schwester verschossen. „Hast du gehört, Francesca? Sie wollen uns nicht dabeihaben.“
„Ich schon“, murmelte Levent.
„Also, Chris will uns nicht dabeihaben“, korrigierte sich Giulia genervt.
„Kann er vergessen!“
Es gefiel Chris gar nicht, in welche Richtung das Gespräch abdriftete.
Wie um ihrer Sache noch mehr Nachdruck zu verleihen, legte Francesca ihm die Hände auf die Schultern. „Ihr geht alle hin, also kommen wir auch mit.“
Nicht nur, um den Schwestern einen Gefallen zu tun, nahm Chris noch einen großen Schluck Bier, sondern auch, um sich selbst noch einen Moment Zeit zu verschaffen, bevor der ganze Sturm über ihn hereinbrechen würde. „Nein“, sagte er dann, ohne den Blick zu heben. „Ihr alle werdet nicht mitkommen.“
Das Schweigen kehrte sofort in die leere Bar zurück. Aber diesmal mischte sich schnell Empörung darunter.
Rafa lachte als Erster. „Bist du bescheuert? Natürlich kommen wir mit!“
Chris schüttelte den Kopf, den Blick beharrlich auf seinen Bierkrug gerichtet. „Ich weiß nicht, was kommende Nacht passieren wird“, stellte er fest, die Worte kamen langsam. In diesem Moment fühlte er sich so müde, als würde ihn die ganze Welt erdrücken. „Aber ich weiß sehr genau, was passiert, wenn etwas schief läuft und Shiros Leute euch in die Hände bekommen“, fuhr er fort. Er musste sich dazu zwingen, denn in seiner Erinnerung sah er das Blut so nachdrücklich über Jenns Richtschwert fließen, als stünde er noch vor der Scheibe des Exekutionsraums. Nur, dass die Toten zu seinen Füßen in dieser Vision die Gesichter seiner Freunde trugen. Levent hatte Recht: so wie die toten Jungs waren auch sie für Shiro nur eine Bande Straßenkinder.
„Gehört und abgelehnt“, sagte Marek.
Jacob legte Chris den Arm um die Schulter. „Von Diplomatie hast du wohl noch nichts gehört?“, flüsterte er ihm zu. Obwohl er sich dann an die ganze Runde wandte, blieb seine Stimme leise. „Ich stimme Chris in einem Punkt zu“, sagte er zu dessen Überraschung. „Ich habe vorhin Kinder sterben gesehen, nur weil sie Shiro ein kleines Geschäft kaputt gemacht haben. Wir sollten die Sache vorsichtig einschätzen.“
„Nein!“ Rafa sprang auf. „Du hast all das hier für uns aufgebaut, Chris. Du hast uns von der Straße aufgelesen. Ich weiß nicht, ob ihr das genauso seht, Leute, aber ich war vorher bloß ein Stück Scheiße, über das alle anderen hinweggetrampelt sind. Wir sind nicht mehr als Treibgut in dieser Stadt. Aber du, Christiano Revlani, hast uns deinen Namen gegeben. Keiner von uns wird dich alleine lassen.“
„Mach dich nicht lächerlich, Rafa.“ Chris zündete sich eine Zigarette an. Die bloße Bewegung fiel ihm jetzt so schwer wie die zehnte Sparringsrunde mit seinem Kampftrainer. Er hätte schon viel eher mit ihnen reden müssen. „Ihr habt die Phönix-Bar zum Laufen gebracht. Ich hab euch nur mit ein wenig Geld dabei unterstützt.“ Und sein Onkel glaubte heute noch, er würde seine monatliche Apanage versaufen und verhuren. Dabei steckte sie seit gut zwei Jahren fast vollständig in der Bar und den damit verbundenen Geschäften.
„Und wer hat die Buchmacher in den Wettbüros am Hafen angeheuert?“, wollte Rafa wissen. „Wer hat dafür gesorgt, dass hier auch unter der Woche Musiker auftreten, um den Laden zu füllen? Was ist mit dem Saint Caivin-Auftritt und der Lagerhalle, die du dafür angemietet hast? Das ist kein kleiner Fisch mehr!“
Es waren nichts als seine finanziellen Reserven für die nächsten zwei Monate gewesen, die das Wunder vollbracht hatten, ihrem Laden direkt nach Neujahr einen Auftritt der Musiker zu sichern, deren Lieder in Berlin jeder kannte, obwohl sie hier noch nie aufgetreten waren. Dieser Erfolg würde der Bar und den anderen Auftrieb geben, selbst wenn er längst fort sein würde…
„Stimmt!“, meinte Giulia, „die haben seit einem Jahr kein einziges Konzert mehr zugesagt. Die Saint Caivin zu buchen ist eine Lizenz zum Gelddrucken. Jeder versucht es, aber du hast es geschafft.“
„Dank Jacobs alten Verbindungen nach London und etwas Geld.“
„Hör endlich auf dein Licht unter den Scheffel zu stellen, Christiano“, knurrte Jacob.
„Und was tust du gerade?“
Jacob zupfte seine Schiffermütze tiefer ins Gesicht.
„Dein Name hat das bewirkt!“ Rafa legte Chris die Hand auf die Schulter, seine Augen leuchten, als er den Blick zu ihm hob.
Sein Name … Chris hätte ihn am liebsten aus allem herausgehalten. Es gefiel ihm nicht, wenn seine Freunde sich draußen als die Jungen Revlani vorstellten, aber er wusste, dass sie den Zusammenhalt und die Sicherheit brauchten, die Leuten wie ihnen nur eine Clanzugehörigkeit geben konnte. Sein Name war für seine Freunde alles. Ihm könnte das verdammte Wort nie mehr bedeuten als sie. Sein Clanname war Ausdruck eines Lebens, das für ihn seit fünfzehn Jahren nicht mehr existierte, und er selbst war nicht mehr ein Revlani als er je ein Confera sein würde.
„Nein“, sagte er. „Das hier, das seid ihr. Das sind wir alle.“ Er sah den Protest in ihren Augen, aber es war genauso: Die Bar war längst mehr, als ein Zeitvertreib, von dem Shiro nichts wusste. Das Geschäft und die anderen, alle, die um ihn herumsaßen oder -standen und ihn anstarrten, als hätte er den Verstand verloren. Er hatte noch so viele Pläne. Für sie alle plante er, einen Preiskämpfer anzuheuern, weil Giulia Levent nach einem üblen Niederschlag verboten hatte, weiterhin für sie anzutreten. Er wusste, dass sie alle davon träumen, dass es einer von ihnen aus den Boxbuden in die große Arena des Olympiastadions schaffte, dass sie sich endlich unter all den kleinen Clans, und aus dem Scherbenhaufen heraus, den Shiros großer Kehraus in der Stadt hinterlassen hatte, hervortun und sich einen Namen machen konnten. Er wollte, dass sie das bekamen.
Selbst wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, er hätte nicht mit ihnen streiten wollen, nicht so kurz bevor er eine Entscheidung treffen musste. Er streckte die Hand aus und zog Rafa wieder auf seinen Stuhl zurück. „Wir brauchen nicht weiter zu diskutieren. Ich gehe alleine zu dem vereinbarten Treffpunkt.“
„Als ob wir dir überhaupt dorthin folgen könnten“, warf Marek ein. „Du hast ihn uns ja nicht einmal verraten.“
„Aus gutem Grund“, sagte Chris und versuchte, die Müdigkeit mit weiterem Bier aus seiner Stimme zu spülen. „Der Einzige, der über alles informiert sein muss, bin ich. Ihr könnt mich den ganzen Abend lang begleiten, wenn ihr darauf Wert legt, aber ihr lasst euch nicht einmal bloß in der Nähe des Treffpunktes mit meinem Vater blicken, bevor ich mir nicht sicher bin, dass das Ganze keine Falle ist.“
„Und wenn es eine ist?“, meinte Rafa.
„Dann sitze ich alleine drin.“ Das tat er sowieso schon. Seit Jahren. „Nur Shiro würde mir eine Falle stellen, oder? Und glaubt mir, der hat andere Pläne mit mir, als mich ausgerechnet morgen Abend über die Klinge springen zu lassen. Es gab genug Gelegenheit dazu. Er hätte es längst tun können.“ Er hatte den Satz kaum beendet, da sackte ihm die Zunge im Mund nach unten. Ihm wurde plötzlich klar, wie viel schwerer es ihm zunehmend fiel, so betont zu sprechen. Dabei hatte er doch noch nicht einmal seinen zweiten Krug geleert…
Jacobs Hand strich von seiner Schulter zu seinem Oberarm hinunter, nur um sich dort wieder zu festigen. Chris hatte keine Lust ihn anzusehen. Er wusste wie Jacobs Blick jetzt ausfallen würde. Stattdessen trank er erneut, schloss die Hände um den warmen Krug und spürte der Wirkung des Bieres nach, die sich in seinem Körper breitzumachen begann, und dem vertrauten Druck von Jacobs Hand. Er hörte die anderen leise weiterdiskutieren, aber er hatte alles gesagt, was sie wissen mussten. Sollten sie daraus machen, was auch immer sie wollten. Ihr gemeinsames Refugium und sie, seine Freunde, das war alles, was er vor dem Einfluss seines Onkels hatte bewahren können. Sein gut gehütetes Geheimnis, das Einzige an ihm, das nicht kaputt war. Er konnte nicht dabei zusehen, wie die anderen Shiro all das vor die Füße warfen, nur weil sie ihn vor etwas beschützen wollten, von dem er selbst keine Vorstellung hat. Er konnte ihre Leben nicht aufs Spiel setzen, nur weil ihm nach fünfzehn Jahren Gefangenschaft plötzlich der Sinn nach einem Ausbruch stand…
„Christiano?“
Er hob leicht den Kopf, der sich jetzt anfühlte wie in Watte gepackt. Das Bier kreiste warm durch seinen Körper. Seine Augen waren geschlossen. Er nahm all dies wahr, aber konnte sich nicht rühren.
Neben ihm bewegte sich jemand.
„Du solltest ihn jetzt wirklich nach Hause bringen.“ Giulias Stimme war immer noch vorwurfsvoll. Doch jetzt flüsterte sie. „Wartet, ich schaue nach, ob ich ein Taxi auftreiben kann.“
„Nein…“ War das seine Stimme? Warum klang sie so weit entfernt?
Eine Hand schob sich vorsichtig unter seinem Arm hindurch, und richtete ihn auf. Dabei lag sein Kopf doch längst weich wie auf einem Kissen. Er wollte nicht aufstehen, er wollte weiterschlafen, den vertraut rauchigen Geruch von Jacobs altem Jackett in seiner Nase.
„Schnell! Ihr könnt kommen.“
Ein weiterer Arm legte sich um seinen Rücken, verfilzte Haare kratzen an seiner Wange. Gemeinsam bugsierten Rafa und Jacob ihn durch die Bar nach draußen. Schneegetränkte, frische Luft flutete Chris‘ Lungen und seine Füße ertasteten wacklige Bohlen. Der Steg, der klapprige Anleger vor der Bar…
Was hatten sie vor?
„Ihr könnt froh sein, det ick jrade auf’m Weg nach Hause bin, sonst hätt‘ ick nämlich nich-„, fauchte eine fremde Stimme neben ihm. Nur einen Spaltbreit gelang es Chris die Lider zu heben, genug um vor sich das unrasierte Gesicht eines älteren Mannes in der abgewetzten Uniform eines Kanalbootführers zu sehen.
„Na hör mal, immerhin bezahlen wir dich!“, protestierte Giulia.
Sie bezahlten ihn?
Die Watte in Chris‘ Kopf dämpfte alle Worte und jeden Gedanken so entsetzlich herunter – Jacobs Halt entglitt ihm, er ließ ihn los, und am Steg dümpelte ein Bootsrumpf gegen den Poller.
„Nich det mir der innen Kahn kotzt!“
„Nein, nein!“
War Jacob auf das Boot gestiegen? Selbst seine Stimme schien vor Chris auf und ab zu schwanken.
„Was…“, brachte er selbst hervor. Er spürte Rafas Hand in seinem Rücken, sah durch Augenschlitze, wie sich Jacobs Rechte zu ihm hinstreckte, um ihn entgegenzunehmen.
„Nein!“ Diesmal sagt er es vehementer.
Francesca blickte ihm prüfend ins Gesicht. Auch ihre Gestalt schwankte vor ihm wie das Boot, als sie sagte: „Das Mittel wirkt nicht richtig.“
„Aber ich hab genug davon genommen!“ Giulias Stimme aus dem Irgendwo.
„Das brauchen wir jetzt nicht mehr zu diskutieren“, sagte Jacob und zog Chris zu sich auf die Bootsplanken.
Sein Gleichgewichtssinn war im Bier ersoffen, Chris taumelte, fiel beinah, straffte sich verärgert. „Was soll das?“, fragte er Jacob mit schwerer Zunge.
„Kann’s losjehen?“ Der Bootsführer fuhr ihm grob dazwischen und beraubte Chris so einer Antwort.
Jacob stabilisierte seinen schwankenden Körper, indem er ihm den Arm um den Rücken legte. „Stadtpalais Confera“, wies er in demselben Befehlston an, den Chris gerne in seiner eigenen Stimme wiedergefunden hätte, als er zu protestieren versuchte: „Danke, aber ich…“
„Es lässt zu früh nach!“ Besorgnis in Giulias Stimme und dann Levent: „Ruhig. Jacob wird ihn nach Hause bringen. Alles wie geplant. Er macht das schon.“
Das Haltetau des Bootes plumpste hinter ihnen auf die Planken. Ein Teil von Chris nahm wahr, wie Marek und Rafa eine massive Front längsseits des Bootes bildeten. Mit ihren ausgestreckten Armen, den wild vor ihren Oberkörpern ausgebreiteten Haaren, sahen sie beide ein wenig so aus wie die Racheengel auf den Schutzmedaillons der Cantara Revlani…
„Ha“, machte Chris. Hatte er nicht ganz etwas anderes sagen wollen?
Jacob schob ihn in die Fahrgastkabine.
„Du musst in eine ganz andere Richtung“, brachte der Teil von ihm hervor, der das unter allen Umständen verhindern wollte.
„Du brauchst es diesmal gar nicht zu versuchen, Chris“, sagte Jacob. „Ich fahre mit.“
Chris lagen all die Ausreden auf der Zunge, die er verwendete, wenn wieder einmal einer von ihnen darauf bestand, ihn nach Hause bringen zu wollen. Er hatte es noch immer allein geschafft, egal wie betrunken, bekifft oder anderweitig angeschlagen er gewesen war. Das war wichtig. Er konnte nicht zulassen, dass … aber alles was er herausbekam, war: „Auf gar keinen F…“ Da sackte sein verräterischer Körper der Verheißung von Ruhe unter dem Verdeck der Fahrgastkabine entgegen. Hinter ihm tuckerte der Motor des Bootes lauter, als der Schiffsführer ihn wieder unter Dampf setzte.
„Ich bringe dich nach Hause“, stellte Jacob fest. Seine Stimme klang prüfend.
Warum?
Chris spürte nur noch das weiche Sitzpolster in seinem Rücken und wie Jacob neben ihn rutschte. Er hörte den anderen leise aufatmen, während er sie beide mit den dort bereitliegenden Wolldecken einhüllte, auf deren muffige Wärme er sonst nur allzu gerne verzichtet hätte.
© 2019 Stefanie Dettmers. Alle Rechte vorbehalten!
Fortsetzung in Band 3!
Welche Pläne hat Lana mit Jenn, der immer noch auf sie im Observationsraum wartet? Nur ein kleiner Hinweis: vielleicht wird es heiß…
Schreibe einen Kommentar