
Für alle, die die Episoden 1, 2 und 3 von „Die Prinzessin der Toten“ (Berlin Monsters) schon gelesen haben, hier ein Preview aus Band 3, der im Juni 2019 erscheint!
Bitte beachte, dass es sich bei dieser Version noch nicht um die überarbeitete Endfassung handelt!
Erde I, 2156
Berlin-Spandau, Forschungseinheit 1, Wohnturm »Zitadelle«
Der Weg zu den Wohnquartieren der Forschungseinheit führte durch einen unterirdischen, angenehm belüfteten Gang, der ihnen Sonne und Hitze vom Leib hielt. Er war zum Teil aus den Ziegeln der alten Zitadelle errichtet worden, die sich früher an dieser Stelle erhoben hatte, und gab Weißkreuz manchmal das Gefühl, er würde durch sein altes Berlin spazieren, durch die Gassen und Hinterhöfe, unter den Eisenbahnbrücken hindurch, eine Spur Moder in der Nase, den es in den modernen Gebäuden nicht mehr gab – jedenfalls nicht in den intakten. Weißkreuz sog hier unten gerne tief die Luft ein. Das war ein bisschen, wie nach Hause zu kommen.
Er schloss kurz die Augen, hörte Lissys Schritte neben sich, atmete den Geruch ihrer Sommerhaare, so wie früher in ihrem Garten im Grunewald, glaubte beinahe, sie lachen zu hören – und wurde vom Summen der Schleusentür zu den Wohnquartieren aus seinen Gedanken gerissen.
Der Köperscanner hatte den Code erkannt, den Elisabeth und er in sich verankert trugen, und gewährte ihnen Zutritt zu den Nebengebäuden. Von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zu seinen Wohnräumen auf der untersten Ebene, nah am Labor und fensterlos.
Weißkreuz war das recht. Er mochte keine Fenster mehr. Er ertrug es nicht länger als nötig, mit anzusehen, was aus Berlin geworden war. Die Stadt war ein Abbild der Welt, in der sie nun lebten, und auch vierzehn Jahren nach ihrer Ankunft in der sogenannten Zukunft konnte Weißkreuz sich nicht daran gewöhnen, wie anders es hier war – so anderes, als er es sich vorgestellt hatte.
Hätte in der Zukunft nicht alles besser werden sollen?
Er sah seine Tochter an, die wie selbstverständlich mit ihm vor seiner Tür stehengeblieben war. Die Verriegelung schnurrte schon, um ihm Eintritt zu verschaffen.
Elisabeth schien in Gedanken zu sein. Ihr Blick ging ins Leere, vielleicht dachte auch sie an das, was sie verloren hatten.
»Bleibst du noch auf ein Glas?« Das Wort Wein wollte Weißkreuz nicht hinzufügen. Alkohol hätte es vielleicht besser getroffen, aber das klang genauso schlecht, wie das Zeug schmeckte.
Elisabeth starrte auf die Tür, unschlüssig. In Weißkreuz keimte ganz kurz die Hoffnung, dass das, was einmal zwischen ihnen gewesen war – Vater und Tochter, Vertrauen – sich doch noch kitten lassen würde.
»Was Engler da vorhin gesagt hat«, begann Elisabeth dann, und das gute Gefühl in Weißkreuz zerbrach, nicht nur weil seine Tochter es regelmäßig vermied, ihren Mann beim Vornamen zu nennen.
Elisabeth straffte sich. »Das ist Schwachsinn«, fuhr sie fort. »Und du weißt es. Ihr könnt Jay und Kim nicht zurückholen. Nicht jetzt, nicht hierhin.«
»Elisabeth, wir haben darüber geredet. Oft.« Er hatte keine Lust, das alte Thema erneut auf den Tisch zu bringen. Er wusste in der Tat zu gut, was seine Tochter darüber dachte. Und fühlte…
Ihre Stimme hatte jede professionelle Sachlichkeit verloren. »Wenn du die Jungs jetzt von diesem Monster zurückbringen lässt, wird sich das Reich auf sie stürzen und eure Forschungen dafür benutzen, um den Krieg gegen die Liga zu gewinnen, die Separatisten auszulöschen und diese Welt ganz nebenbei auch.«
Weißkreuz rieb sich über die Augen. »Das wäre nicht so schlecht, oder?«
»Und es wäre natürlich auch nicht schlecht, wenn wir alle dabei draufgehen, nicht wahr, Vater? Wie oft willst du dich noch aus der Verantwortung stehlen?«
»Elisabeth, das ist unfair.«
»Nein, es ist absolut fair! Wenn du in der Vergangenheit auch nur einmal genauer über die Konsequenzen deines Handelns nachgedacht hättest, dann wären wir alle nicht hier!«
Elisabeth sprach nicht aus, was das für Konsequenzen gewesen waren, aber Weißkreuz lebte damit jeden Tag. Er wusste, was sie meinte.
»Dir geht es doch nur um die Jungen!«, warf er ihr vor, weil jeder Gedanke daran zu sehr wehtat. »Du hast in all den Jahren nicht verwunden, dass…«
»Mir geht es um deinen Verstand!«, unterbrach sie ihn. »Das alles ist so lange her, glaubst du, ich weiß nicht, wo jetzt mein Platz ist? Und ich habe keine Lust darauf, dass du mir noch ein Leben kaputt machst – selbst wenn es so erbärmlich ist wie dieses!« Sie warf sich herum und war schon einige Schritte weit weg, als er hier hinterherrief: »Warte, wohin willst du denn jetzt?«
Elisabeth schaute nicht einmal zurück. »Ich bin mit Willi und Franzel im Kaufhaus Berlin verabredet.«
Hießen so die beiden Laborclone? Warum, zur Hölle, wollte sie sich lieber mit denen treffen, als mit ihm über diese Sache zu reden? Sie mussten doch irgendeinen Konsens erreichen. Elisabeth musste doch einsehen, dass er recht hatte!
»Es tut mir ja leid, dass alles so gekommen ist!«, rief Weißkreuz ihr hinterher.
Elisabeth lachte und hob den Mittelfinger. »Erzähl das jemand anderem!« Dann verschwand sie hinter der nächsten Gangbiegung.
Weißkreuz stampfte in seine Wohnung. Die Tür konnte sich nicht schnell genug hinter ihm schließen.
Dann schrie er.
So laut er konnte.
Die gute Schallisolierung der Räume war eine Notwendigkeit der modernen Wohnsilos. So hörten die dicht an dicht wohnenden Nachbarn einander nicht. Für Weißkreuz war sie der einzige Vorteil dieses Schuhkartons aus Hauptraum, Schlaf- und Nasszelle.
Er marschierte direkt zur Dusche, zog sich nicht aus, drehte den Hahn auf. An guten Tagen lief das Wasser zwei Minuten, erst dann setzte der Energiestrom der Simulation ein, die den Reinigungsprozess trotz Wasserknappheit abschloss. Er ließ sich völlig durchweichen. So kam seine Kleidung auch mal mit Wasser in Kontakt. Weißkreuz hatte das Gefühl, dass sie nie richtig sauber wurde, wenn er sie in die Wäscherei gab.
Leider spülte das Wasser nur den Schmutz und nicht seine Erinnerungen fort. Im Gegenteil, die Mischung aus Feuchtigkeit und Elisabeths Anklage, brachten sie wieder zurück. Diesmal nachdrücklicher.
Weißkreuz sah sich und die Familie im Garten: Sommerregen, Christine, er und die Kinder pitschnass, glücklich, kurz nachdem er sie in Bad Kissingen bei den Verwandten in Sicherheit gebracht hat, weit weg von Berlin…
In Sicherheit!
Weißkreuz stöhnte gequält. Er wollte jetzt nicht daran denken, sie fehlten ihm so!
Er riss sich die nasse Kleidung vom Leib, die längst Tonnen zu wiegen schien, und ihn nach unten zog. Und wie auf ein Kommando krachte es draußen zum zweiten Mal an diesem Tage. Diesmal so stark, dass das Gebäude in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Das Wasser stoppte.
Die scheiß Liga!
Ob die Feinde des Neuen Reiches ahnten, dass sie in der Forschungseinheit 1 zum Jahresende einen Coup planten, der ihrer aller Schicksal ändern könnte? Weißkreuz kam es so vor, als wollten sie gezielt ihn treffen, um ihn von seinen Plänen abzubringen.
Sie hatten damit großen Erfolg.
Das Licht fiel aus. Der Energiestrom, der seine Reinigung hätte fortsetzen sollen, als das Wasser ausblieb, kam nicht. Dafür übernahm Weißkreuz‘ Phantasie das Kommando und füllte die Dunkelheit vor seinen Augen mit ihren eigenen Bildern.
Er rutschte an der Duschabtrennung zu Boden und presste sich die Hände auf die Lider. Doch das nutzte nichts. Zum tausendsten Mal spielte ihm seine Erinnerung dieselben Bilder wie einen schlechten Film vor, obwohl er sie nicht einmal selbstmiterlebt hatte, obwohl sie nur seine Vorstellung von den Bombern über Schweinfurt im August 1943 waren. Immer hörte er die Geschwader herannahen und sah Christine und die Jungs ahnungslos, unterwegs zum Bahnhof… Es fiel ihm nicht schwer, sich das alles ganz genau auszumalen. Er hatte den Krieg zuhause ja selbst erlebt – verdammt, er lebte seit seiner Ankunft im Neuen Reich tagtäglich mitten im Krieg! Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie die drei von den Bomben zerrissen worden waren, die Schweinfurt 1943 getroffen hatten. Er hatte damals nichts dagegen ausrichten können und er konnte es auch jetzt nicht.
Der Generator ließ sich sehr viel Zeit damit, wieder für Licht zu sorgen.
Weißkreuz entkam den Bildern nicht.
Sie töten ihn.
Erst verfluchte er Lissy dafür, dass sie ihn erneut daran erinnert hatte. Dann sich selbst. Seine Tochter konnte nichts dafür, sie war damals noch ein Kind gewesen. Sie hatte recht. Es war einzig und allein seine Schuld gewesen. Er hatte seine Familie nach Bad Kissingen geschickt, weil er geglaubt hatte, sie wären dort sicher. Er hatte nicht verhindert, dass sie am 17. August ins verdammte Schweinfurt mit seiner kriegswichtigen Industrie gefahren waren, um den Zug nach Berlin zu nehmen und Lissy abzuholen, die wenige Tage zuvor ausgerissen war. Und er hatte es versäumt, seine Tochter postwendend wieder nach Kissingen zurückzuschicken, die ihn in Berlin hatte besuchen wollen, weil sie ihn vermisst hatte. Denn er hatte sie genauso vermisst. Er war egoistisch gewesen.
Er hatte Elisabeth deswegen nie Vorwürfe gemacht. Sie war doch erst zwölf Jahre alt gewesen. Die Erinnerung an ihr bleiches Mädchengesicht verfolgte ihn bis in die Dunkelheit hinter seiner Stirn. Er erinnerte sich, wie sie ihn angesehen hatte, als sie erfuhren, dass Schweinfurt bombardiert worden war, und dass ihre Mutter und ihre Brüder tot waren.
Das Licht ging wieder an, ein letzter Schwall Wasser ergoss sich über Weißkreuz, und er rappelte sich auf, wischte Nässe und Tränen weg, drückte sich an der feuchten Wand hoch. Sein Gesicht im Spiegel war genauso blass wie Elisabeths damals. Er würde ihr niemals übelnehmen können, was sie damals getan hatte. Denn er hatte das alles in Gang gesetzt, als er und Engler dem Neuen Reich ihre Zusage zu den Experimenten gegeben hatten.
Jetzt war es an ihm, alles wieder in Ordnung zu bringen. Für Lissy, für die Reste seiner Familie. Das musste auch seine Tochter einsehen! Nur dafür lebte er noch; diese neue Welt war ihm so egal, wie sie es nur sein konnte.
Weißkreuz krallte die Hände um den Waschbeckenrand aus Plastik, sah sich im Spiegel an und versprach sich: Er würde sich alles wiederholen. Morgen war es endlich so weit. Diesmal würde er keine Fehler machen.
*
Erde II, 2156
Berlin, Zitadelle Spandau
Der Tumult brach los, kaum dass Lana vor das Tor der Zitadelle trat. Sie hatte sich darauf gefasst gemacht – die Berliner Morgenpost war schließlich längst verteilt – dennoch traf sie der Aufruhr, das Geschrei, ihr Name aus viel zu vielen Kehlen wie eine Wand, gegen die sie aus vollem Lauf prallte. Wäre das Interview gestern gelaufen wie geplant, wäre das vielleicht anders gewesen. Jetzt war sie froh, die Journalisten von der Gefängnisinsel verbannt zu haben. Sie warteten am anderen Ufer auf sie und verschafften damit Lana einige kostbare Momente, in denen sie ungestört in ihre heutige Rolle schlüpfen konnte. Auf diese Distanz würden die Paparazzi auf ihren Fotos kaum mehr als einen verschwommenen hellen Fleck draufhaben. Sie konzentrierte sich ganz auf den Bericht des diensthabenden Kommandanten, der neben ihr ging, nickte den wartenden Sicherheitsmännern zu und zog ihre gefütterten Lederhandschuhe an, während die Wintersonne ungnädig ihre Kälte über sie ausgoss.
Es fiel ihr schwer, nicht den Kopf hochzureißen, als urplötzlich Lachen durch die aufgeladene Atmosphäre schnitt.
Woher kam das?
Sie hob knapp den Blick von ihren Handschuhen und sah Jenn, der gerade aus der Schleuse geführt wurde.
Neben ihr knurrte es unwillig. »Der Henker Jenn, Çasima«, fügte der Kommandant mit kaum verhohlenem Unmut hinzu. »So wie du befohlen hast.«
Lana war egal, was der Mann darüber dachte. Jenn war der einzig vertraute Anblick an diesem Morgen. Sie ersparte sich die tumultartigen Umstände am anderen Ufer noch etwas länger und wandte sich dem Tor zu.
Die beiden Sicherheitsleute vom Vorabend flankierten Jenn, Maduans magischer Bann, der ihn an die Zitadelle fesselte, jagte Schauer durch seinen Leib, und trotzdem schien er das Szenario amüsant zu finden, dass sich ihm hier draußen bot. Jenns stolzer, schlanker Körper, den selbst dieser Ort nicht hatte brechen können, setzte sich in seiner hellen Kleidung wohltuend vom roten Backstein des Torhauses ab. Letzte Nacht hatte sie ihn ganz ausgezogen, und trotzdem nicht feststellen können, ob unter seinem Henkersweiß und all dem Blut noch ein Mann steckte. Aber in dem beigefarbenen Reitmantel, den sie ihm zu karierten Hosen hatte bereitlegen lassen, sah er beinahe wie einer aus. Mehr noch – vielleicht sogar ein bisschen so wie damals, als sie sich kennengelernt hatten: wie der große Junge mit den dunklen, langen Haaren, der nett zu ihr gewesen war, obwohl ihr Vater ihm dazu keinen Grund gegeben hatte.
Eigentlich hätte sie ihn gerne öfter so gesehen. Oder so lachen gehört. Sie waren einander noch nie so fern gewesen wie jetzt, obwohl sie nur wenige Schritte trennten. Es tat ihr längst leid, wie sie ihn behandelt hatte. Als sie nach wenigen Stunden unruhigem Schlaf, zusammengesunken auf ihrem Ruhebett erwacht war, war die Erinnerung an letzte Nacht, die Hinrichtung, Maduan, Jenn, sofort wieder dagewesen, kaum verborgen unter einem ekelhaft dünnen Schleier aus Benommenheit, den sie noch vor ihrem Make-Up aufgefrischt hatte. Sie hatte die Kontrolle verloren. Das durfte heute nicht noch einmal passieren!
Jenn biss sich auf die Unterlippe, bemüht um Ernsthaftigkeit, als sie ihn in Empfang nahm. Ob er in ihren Augen sah, dass sie schon wieder etwas eingenommen hatte, als sie das unauffällig schwarze Lederband, das bereits eng um seinen Hals lag, durch einen Daumendruck mit dem magischen Bann belegte, den Maduan auf sie übertragen hatte? Er sah ihr einen Herzschlag lang in die Augen, während auf der anderen Seite die Fotokameras surrten. Sie wartete darauf, dass er irgendetwas Ketzerisches sagte. Doch obwohl hinter seinem Rücken die beiden Sicherheitsmänner wütende Löcher in die Luft starrten, grinste er bloß verschwörerisch und nutzte die gut fünf Schritte voll aus, die er sich nun noch frei von Lana fortbewegen konnte, ohne von Krämpfen zu Boden geworfen zu werden.
»Pferde?«, fragte er und klang dabei so unbeschwert, dass er sie mit seinem Lachen ansteckte.
»Ja«, sagte sie, als wäre daran überhaupt nichts Besonderes, und folgte ihm. Der Mietstallbesitzer, der die beiden Schimmel auf ihren Wunsch hergebracht hatte, streckte ihr sofort die Hände entgegen, um ihr in den Sattel zu helfen.
Ihr Tier war groß, der Mann hatte sicher die beiden imposantesten Exemplare aus seinem Bestand ausgewählt, und Lana war schon mehr als ein Jahr nicht mehr geritten, also gewährte sie ihm die Gunst, seine Hilfe anzunehmen. Das Leder knarrte sanft unter ihrem Hintern und schmiegte sich vertraut an ihre Schenkel an, als sie die Füße in die Steigbügel setzte. Auf einem Pferd zu sitzen fühlte sich immer noch so gut und richtig an, wie all die Dinge, die ihr Vater ihr verboten hatte. In einiger Entfernung wartete am Hauptanleger der Zitadelle ungenutzt die weiße Barke mit dem Clanwappen der Confera, die sie eigentlich hätte abholen sollen, während sich im Hintergrund die dunklen Transportschiffe zur Abfahrt in den Kanal bereitmachten, die eine sehr viel hässlichere Fracht zum Stadion transportieren würden: die Männer des Dragowicz-Clans. Im Moment konzentrierten sich die meisten Journalisten auf diese Schiffe.
Jenn ignorierte die Hand des Pferdeknechts und zog sich mit einer Übung in den Sattel des zweiten Tieres, die sie nicht von ihm erwartet hatte. »Jetzt verstehe ich, warum du so früh aufbrechen wolltest«, stellte er fest. »Mit den Pferden werden wir sehr viel länger brauchen.«
»Vor allem, weil keiner von denen reiten kann«, sagte sie mit Blick auf die Männer der Schutztruppe, die sie begleiten würden.
Dank dem Ausbau des städtischen Kanalsystems führte der direkte Weg in ganz Berlin nur noch über Wasser – Spreevenedig, nannten die Berliner den innersten Ring der Stadt. Kaum einer ritt noch durch die Stadt. Sie würden verschlungene Wege nehmen und die zahlreichen Brücken überqueren müssen, unter denen Schiffe einfach hindurchgleiten konnten. Die Straßen und Gehsteige würden voll sein mit dem Fußvolk, das sich ein Boot als Transportmittel nicht leisten konnte. Aber nur so würden sie unweigerlich alle sie sehen: Lanakin Confera, die alte cantarische Traditionen aufrecht erhielt und zur Arena ritt, mitten unter ihnen.
»Ich bin überrascht, dass du es kannst«, sagte sie zu Jenn. »Hattet ihr Pferde?«
Er tat die Frage mit demselben stoischen Achselzucken ab, mit dem er jedes Interesse an seiner Vergangenheit abblockte. »Ich denke, ich kann mich oben halten«, sagte er ausweichend, legte das Bein vor das Sattelblatt und hob es an, um nachzugurten.
»Ach, ja?«, meinte sie und er lächelte wissend, als er sich wieder aufrichtete.
»Was steckt hinter dieser Idee?«, wollte er wissen. Er schien ihr ehrlichen Respekt zu zollen, als sein Blick jetzt an ihrem hellbraunen Reitkostüm aus Wolle entlangglitt, der taillierten Jacke und den Breeches, die so gut zu seiner Kleidung passten. Nur einen Moment lang blieb er kritisch an der Umhängetasche aus hellem Glattleder hängen, die sie so wie den Rest ihres Outfits eigens für diesen Tag hatte anfertigen lassen. Jenn runzelte die Stirn, doch dann sagte er: »Du siehst gut aus.«
»Alles Ablenkung, Jenn, trotzdem danke.« Sie kontrollierte den Gurt ihres eigenen Pferdes und meinte: »Du willst mir nicht verraten, wo du reiten gelernt hast. Ich werde dir nicht verraten, warum wir diesen Weg nehmen.«
»Ich vermute, weil der Grund dafür an unserem Ziel auf dich warten und die Idee nicht ganz so großartig finden dürfte wie ich?«
Sie widmete sich ganz ihren Handschuhen, obwohl sie längst perfekt saßen und spürte das Lächeln in ihren Mundwinkeln. Manchmal fragte sie sich, ob Jenn Gedanken lesen konnte. Er wäre darin sicher großartig gewesen, wenn er nicht seine Magie verloren hätte. »Es freut mich, dass du sie zu würdigen weißt«, sagte sie. »Allerdings dürften uns die Leute auf der Straße auch in dieser Verkleidung erkennen…«
»Jenn, lass mich nicht bereuen, dich mitgenommen zu haben.« Lana setzte ihr Pferd in Bewegung, bevor er sie ins Grübeln bringen und unsicher machen konnte. Dies hier war keine Verkleidung, die Leute sollten sie erkennen.
Er folgte ihr mit der Gewandtheit eines guten Reiters, ließ sein Pferd an ihres herantänzeln und lehnte sich leicht im Sattel zu ihr hinüber, um zu sagen: »Niemals. Es ist der perfekte Tag für einen Ausritt.«
Und er hatte Recht. Der Tag schien plötzlich nicht mehr ganz so kalt, die Rufe am anderen Ufer nahmen eine neue Qualität an, und die Sonne brachte den Neuschnee zum Funkeln, der den vor ihnen liegenden Weg fort von der Gefängnisinsel so viel unschuldiger wirken ließ als den Gebäudekomplex der Zitadelle Spandau, der nun hinter ihnen zurückblieb.
»Ein Tag wird immer nur so perfekt wie man ihn macht«, sagte sie zu Jenn. »Weißt du, von wem ich das gelernt habe?«
Er lächelte. »Vom Synças Confera?«
© 2019 Stefanie Dettmers. Alle Rechte vorbehalten!
Fortsetzung in Band 4!
Was erwartet Lana und Jenn an der Arena? Und wie geht es mit Joakin weiter?
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